Archiv mit überregionaler Bedeutung in Dresden

Ein Archiv stellt sich vor

Ein Blick auf die Bestände

In Heft 61 der „Mitteilungen“ des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V. stellt Christoph Meyer der Öffentlichkeit erstmals ausführlich die Bestände des Archivs der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung vor.[1] Seit mehreren Jahren schon sind die Nachlassteile von Herbert und der Nachlass von Greta Wehner interessierten Forscherinnen und Forschern zugänglich. Hier nun eine Übersicht:

Das Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung in Dresden

Von Christoph Meyer

Seit 1996 befindet sich ein wichtiger Teil des Nachlasses von Herbert Wehner (Dresden 1906-1990 Bonn) in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden. Die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung (http://www.hgwst.de) am Rande des Stadtteils Leubnitz-Neuostra ist seit Greta Wehners Tod Inhaberin des Bestandes, der in ihrer historischen Wohnung aufbewahrt und gepflegt wird, zusammen mit der Einrichtung und der ansehnlichen Privatbibliothek eines der wichtigsten Sozialdemokraten (und Ex-Kommunisten) des 20. Jahrhunderts und seiner Familie.

Zur Geschichte

„Etwas von Herbert in seine Heimat zurückbringen“, darum ging es seiner Witwe, als sie Mitte der 1990er Jahre entschied, in die Geburtsstadt und Sehnsuchtsheimat des langjährigen stellvertretenden Parteivorsitzenden (1958-1973), Fraktionsvorsitzenden (1969-1983) und Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen (1966-1969) zu ziehen. Dieser Schritt hatte sich schon seit einigen Jahren abgezeichnet. Seit 1990 waren Gretas Wehners Reisen in die untergehende und dann ehemalige DDR immer häufiger geworden, sowohl in Brandenburg als auch in Sachsen war sie häufig zu Gast, und wie sie einmal äußerte, fiel ihr der Umzug nicht schwer: „Bonn war nur Arbeitsort, mehr nicht“, sagte die inzwischen über 70-Jährige, die selbst nie vorher in Sachsen gewohnt hatte. Greta Wehner verkaufte die bescheidene Reihenhauswohnung auf dem Bonner Heiderhof, nahm einen Kredit auf und erwarb eine etwa 140 Quadratmeter große Eigentumswohnung in einem Dresdner Neubaublock. Dahin brachte sie die gesamte Einrichtung, die Bücher, Möbel, Bilder und Haushaltsgegenstände nebst Unterlagen, über welche sie seit Wehners Tod auch in Bonn verfügt hatte und sorgte für eine originalgetreue Wiedereinrichtung.

Herbert Wehner mit Greta (um 1960)

Herbert Wehner wurde am 11. Juli 1906 in Dresden geboren. Zwischen 1927 und 1942 war Wehner Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), unter anderem als Landtagsabgeordneter in Sachsen, Technischer Sekretär des Politbüros und von 1935 bis 1937 Mitglied des Zentralkomitees. 1942 wurde Wehner in Schweden verhaftet, wegen angeblicher Spionage für die Sowjetunion zu Zuchthaus verurteilt und wegen angeblichen Parteiverrats aus der KPD ausgeschlossen. 1946 kehrte er nach Deutschland zurück, wurde sogleich in Hamburg Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und arbeitete als Außenpolitischer Redakteur beim „Hamburger Echo“. 1949 wurde er erstmals in den Bundestag gewählt; das Mandat für Hamburg-Harburg-Wilhelmsburg eroberte er bis zu seinem Verzicht auf eine Wiederwahl 1983 jeweils direkt. Unter anderem war Herbert Wehner von 1949 an Mitglied im Fraktionsvorstand, Vorsitzender des Ausschusses für gesamtdeutsche Fragen (bis 1966), Mitglied des Parteivorstands (1952-1982), stellvertretender Fraktionsvorsitzender (1957-58 und 1964-66), stellvertretender Parteivorsitzender (1958-1973), Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen (1966-1969) sowie Fraktionsvorsitzender (amtierend 1966 sowie 1969-1983).

Die am 31. Oktober 1924 geborene Greta Burmester stammte mütterlicherseits aus Flensburg; ihr 1934 von den Nazis ermordeter Vater Carl war gebürtiger Hamburger. Beide Eltern waren kommunistische Widerstandskämpfer; Mutter Lotte musste 1937 mit ihren beiden Kindern nach Schweden fliehen. Dort traf die Witwe 1944 auf Herbert Wehner, der damals mit dem Kommunismus schon gebrochen hatte. Die beiden blieben ein Paar bis zu Lottes Tod im Jahr 1979. Greta Burmester wiederum, gelernte Sozialarbeiterin, zog 1953 nach Bonn zu ihrer Mutter und Herbert Wehner, um die infolge der Nazi-Haft schwer Kranke zu pflegen, vor allem aber um den Abgeordneten Wehner bei seiner Arbeit im Wahlkreis, im Bundestag und für die sozialdemokratische Partei zu entlasten, zu organisieren und zu begleiten. Daraus wurde eine enge, über 30 Jahre währende Arbeitsbeziehung und, nach dem Tod der Mutter, auch eine Liebesgeschichte. Nach Wehners Ausscheiden aus dem Parlament schließlich, im Jahr 1983, heirateten die beiden; für ihn war das überlebensnotwendig, denn er erkrankte infolge seines langjährigen Diabetes an Demenz, und Greta Wehner pflegte ihn bis an sein Lebensende am 19. Januar 1990.

Nach Herbert Wehners Tod übergab Greta Wehner den größeren Teil des Nachlasses dem Herbert-Wehner-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie in Bonn. Dort ist der Bestand inzwischen interessierten wissenschaftlichen Forscherinnen und Forschern zugänglich. Einen wichtigen, kleineren Teil, nahm sie jedoch nach Dresden mit, und sie verfügte zu ihren Lebzeiten, dass er dort auch verbleiben soll. Die Bestände sollten der politischen Bildungsarbeit in Sachsen dienen; die geistige Auseinandersetzung mit dem Lebenswerk Herbert Wehners sollte das in Dresden beheimatete Herbert-Wehner-Bildungswerk, welches Greta Wehner 1992 mitbegründet hatte, in seiner Arbeit begleiten und stützen.

Schließlich vermachte Greta Wehner alles, Wohnung, Bücher und Archiv, der im Jahr 2003 von ihr gegründeten Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, welche das Erbe nach ihrem Tod am 23. Dezember 2017 antrat.

Zum Bestand

Zunächst waren es vor allem die Redeentwürfe, Zeitungsartikel von und über Herbert Wehner, Manuskripte, Typoskripte und Pressemitteilungen, welche den Kernbestand des Archivs bildeten; als Aktengruppe „EA“ (Laufzeit: 1950 bis ca. 1985) umfassen sie 95 Signaturen mit inzwischen über zwanzig laufenden Regalmetern. Ein Highlight ist etwa das Original-Manuskript der berühmten Bundestagsrede Wehners vom 30. Juni 1960, mit welcher er die Sozialdemokratie auf den Boden der Realität der Westbindung der Bundesrepublik Deutschland stellte und sie damit ein für alle Mal regierungsfähig machte.

Ein Blick in den Terminkalender

Die Archivalien wurden erstmals verzeichnet und in dieser Form auch systematisch genutzt für die Biografie „Herbert Wehner“ des damaligen Geschäftsführers des Herbert-Wehner-Bildungswerks und heutigen Vorsitzenden der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung Christoph Meyer, welche 2006 im dtv-Verlag erschienen ist (http://www.hgwst.de/angebote/buecher/). Neben dem EA-Bestand wurde noch differenziert in die Aktengruppen „DU“, „PB“ und „HF“. Dann kamen „TK“ und „SD“ hinzu, später „WV“ und „GW“.

„PB“ – Persönlicher Briefwechsel – umfasst vor allem innerfamiliäre Briefe der Wehner-Burmesters von den 1930er Jahren an bis ins Jahr 1990. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Briefverkehr zwischen Herbert, Lotte und Greta Wehner. Auch dies sind Geschichtsdokumente ersten Ranges, die den politischen Betrieb, aber auch das Leben einer bedeutenden Politikerfamilie aus erster Hand dokumentieren. Der Bestand umfasst knapp 10 Meter mit etwa 90 Signaturen.

„DU“ – Diverse Unterlagen, hier handelt es sich um einen kleineren Bestand von etwa drei Regalmetern Breite. Er enthält Schriftverkehr zu verschiedenen Kampagnen, die zeit seines Lebens von rechter, konservativer oder kommunistischer Seite gegen Herbert Wehner geführt wurden, prominent zum Beispiel die sogenannte „Dagens-Nyheter-Kampagne“ des Jahres 1957.

„HF“ – Humanitäre Fälle bzw. Häftlingsfreikäufe und Familienzusammenführungen. Diesen Bestand hat Greta Wehner ebenso wie die „DU“-Akten aus Bonn nach Dresden mitgenommen, um auf posthume Angriffe gegen ihren Mann reagieren zu können. Dieser Bestand blieb allerdings knapp zehn Jahre verpackt, gestapelt in einem Reisekoffer. Auf etwa 1,20 Metern Breite findet sich in „HF“ die politische Seite des Kontakts von Herbert Wehner zu Erich Honecker zum Thema Häftlingsfreikäufe und Familienzusammenführungen: Schriftwechsel, etwa mit Honecker, Brandt und Schmidt, Listen von Fällen, stenographische Mitschriften der Mitteilungen Honeckers über den Anwalt Wolfang Vogel zwischen 1973 und 1983. Ein politisch und historisch hochkarätiger Bestand, der in den letzten Jahren intensiv für Quellenpublikationen genutzt worden ist, insbesondere seitens des Bundesarchivs für die Edition der „Dokumente zur Deutschlandpolitik“. Zuletzt sind die Stenogramme Wehners im Rahmen eines Kooperationsprojekts zwischen Bundesarchiv und Wehner-Stiftung transkribiert worden, eine Arbeit, die kurz vor der Endabnahme steht.

Fundstück: Foto Herbert und Lotte vor Borgward, um 1951

„TK“ – Terminkalender, in zwei Kistchen nur, aber die (durchaus vollen) Terminkalender von Herbert und Greta Wehner im Original ab Mitte der 1940er Jahre sind natürlich ebenfalls eine wichtige Quelle.

„SD“ – Sammlung Dresden, dieser bisher überschaubare Bestand enthält Gesammeltes der Stiftung zum Leben und Werk von Herbert und Greta Wehner, zum Beispiel Original-Briefwechsel, den Dritte mit Herbert und Greta Wehner hatten und welcher der Stiftung gespendet wird. Der Bestand umfasst über 80 meist schmalere Signaturen und wächst noch.

„WV“ – Wolfgang Vogel. Den wichtigen Teilnachlass des „DDR-Anwalts“ (1925-2008) hat dessen Witwe Helga Vogel der Stiftung im Jahr 2017 übergeben. Es handelt sich dabei um die Gegenüberlieferung zu „HF“, also vor allem die Original-Karteikarten mit handschriftlichen Notizen Vogels zu Mitteilungen von Honecker, die er Herbert Wehner zu übermitteln hatte. Hinzu kommen Reiseunterlagen, aber auch Unterlagen zu anderen West-Kontakten Vogels sowie Presseausschnitte.

Original des Manuskripts „Wieder gut machen“ (1942/43)

„GW“ – Greta Wehner, das ist der Nachlass Greta Wehners, welcher ihr ganzes Leben, also eine Laufzeit von 1924 bis 2017 umfasst und alles von und über sie enthält, aber auch alle weiteren Fundsachen in der Wohnung der Wehners, die naturgemäß auch Fotos, Dinge und Papiere von und über Herbert und Lotte Wehner umfassen. Über 100 Aktenordner, bisher noch unverzeichnet, enthält dieser Bestand, welcher im Zuge des Schreibens der Biografie „Greta Wehner“ von Christoph Meyer nach und nach erschlossen wird.

Die Arbeit an den Beständen läuft noch, und da die Stiftung ohne öffentliche Fördermittel auskommen muss und sie ehrenamtlich geführt wird, ist ihr Abschluss derzeit nicht in Sicht. Für interessierte seriöse Forscherinnen und Forscher werden die Bestände jedoch auf Anfrage zugänglich gemacht (http://www.hgwst.de/bibliothek-und-archiv/archiv-der-herbert-und-greta-wehner-stiftung-hgwst/), und ebenso bietet die Stiftung kleinen Gruppen die Besichtigung der historischen Räumlichkeiten in einzigartiger Atmosphäre an (http://www.hgwst.de/herbert-wehner-auf-der-karte-der-demokratie/).

 

Kontakt:

Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung

Prof. Dr. Christoph Meyer

Tornaer Straße 56a, 01239 Dresden

Telefon (03 51) 288 16 67

E-Mail meyer@hgwst.de

Internet http://www.hgwst.de

 

[1]             Meyer, Christoph (2022): Das Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung. In: Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V.: Mitteilungen Nr. 61 (März 2022), S. 10-14.

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