Wehner – die Quellen zählen
Aus dem Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung (Teil 2)
Um den Ex-Kommunisten und dann führenden Sozialdemokraten. Herbert Wehner (1906-1990) ranken sich Legenden und Kampagnen. Rufmordkampagnen haben seinen ganzen Lebensweg geprägt, und die Attacken sind nach seinem Tode und bis heute nicht verstummt. Und sei es nur so am Rande, eine kleine herabsetzende Nebenbemerkung in Zeitungsartikeln und Kommentaren, die Rede vom Denunzianten, Verräter, angeblich humorlosen, autoritären Zuchtmeister und so weiter. Greta Wehner (1924-2017) hat all die Zeitungsartikel gesammelt, aber auch Wehners eigene Reden und wichtige Unterlagen, Gegenbeweise zu den Kampagnen, die aus verschiedensten Lagern der deutschen Politik gekommen sind, von ganz rechts bis ganz links, von den Konservativen bis gar zu Sozialdemokraten selbst. Die Geschichte der Attacken auf Wehner zu schreiben, könnte ganze Bücher füllen. Die wichtigsten Quellen dazu befinden sich in seiner Geburtsstadt Dresden, im Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung (http://www.hgwst.de). Wer Fakten von Fiktionen unterscheiden will, kommt daran nicht vorbei.
Gegen oder ohne Wehner
Zwei Linien im Umgang mit einer der stärksten Persönlichkeiten ihrer Nachkriegsgeschichte verfolgen Teile der offiziösen Parteigeschichtsschreibung: Bekämpfen oder Beschweigen – wenn es ausführlicher werden muss, geht auch beides in Kombination miteinander. Die Motivlage dabei ist von gemischter Natur. Prinzipiell ist alles zugänglich. Aber der Keller in Bonn scheint tief, und Dresden liegt nicht an der entscheidenden Autobahn. Dabei gibt es hier einen Schatz, er ist fürs erste gesichert, noch nicht ganz gehoben, aber doch nutzbar.
Immerhin, das Bundesarchiv in Koblenz hat ihn für sich entdeckt. Jedenfalls für seine Quellenpublikationen zur Geschichte der Deutschlandpolitik nutzt es die Aufzeichnungen von Herbert Wehner zur politischen Seite der Häftlingsfreikäufe und Familienzusammenführungen im geteilten Deutschland. Die Wehner-Stenogramme des „HF“-Bestandes sind nahezu vollständig transkribiert und damit entschlüsselt. Doch andere Editionen, etwa die zur Fraktionsgeschichte oder der Kabinettsprotokolle der Bundesregierung meinten und meinen, ebenso wie die weitaus meisten Zeitgeschichtsschreiber, ohne Wehners wortwörtliche Mitschriften der zahlreichen Sitzungen und Gesprächsrunden auskommen zu können. Dabei geht es da gar nicht in erster Linie um die Geschichtsschreibung zu Herbert Wehner selbst – seine eigenen Redebeiträge konnte er ja gar nicht mitschreiben!
Da wäre also noch viel zu entschlüsseln.
Ein drastischer Fall
Frei erfunden und besonders drastisch sind die Schilderungen des Egon Bahr, ehemaliger Zuarbeiter Willy Brandts. Medienwirksam hat er damit das sozialdemokratische Superjubiläumsjahr 2013 – 150 Jahre Partei und 100 Jahre Willy Brandt – vergällt. Zu dessen Geburtstag im Herbst gab es eine große Willy-Brandt-Gedenkveranstaltung im Berliner Parteihaus. Mit von der Partie: Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, dem das Andenken Willy Brandts ebenso am Herzen lag wie dasjenige Herbert Wehners. Vogel konnte im Vorfeld seines gemeinsamen Auftritts mit Bahr lediglich vereinbaren, dass sie über das Thema Wehner lieber nicht sprechen würden (also Beschweigen statt Bekämpfen).
Denn Bahr hatte zuvor im knapperen zweiten Aufguss seiner Memoiren die Lüge vom Verrat Herbert Wehners am ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler erneut aufgetischt. In seinem Erinnerungsbuch „Das musst du erzählen“ (Propyläen 2013, S. 153) warf er Herbert Wehner eine Art „Hochverrat“ vor, ein heimliches Paktieren mit der anderen Seite.
Das begründete Bahr vor allem damit, dass Herbert Wehner den Kanzler über seine Besprechungen mit Erich Honeckers Abgesandtem Wolfgang Vogel im Unklaren gelassen habe. Wehner habe seinen „persönlichen Grundlagenvertrag“ an Brandt vorbei mit Honecker abgeschlossen und sei damit dem Kanzler in den Rücken gefallen (vgl. ebd., S. 152f.).
Das ist falsch. Im Gegenteil: Herbert Wehner hat Willy Brandt nach allen Gesprächen unmittelbar detailliert informiert und ihm seine Aufzeichnungen zukommen lassen. Das gilt für Wehners Reise zu Erich Honecker Ende Mai 1973; ebenso umfassende Berichte für Brandt und die SPD-Spitze gibt es von der sagenumwobenen Moskau-Reise 1973 wie auch von allen Kontakten zu dem SED-Staats- und Parteichef danach. Der Fraktionsvorsitzende hat den Kanzler stets informiert, und der Kanzler hat ihm dies damals auch jeweils bestätigt. Im Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung befinden sich die Beweise im Original.
Greta Wehner, lange Jahre Herbert Wehners engste Begleiterin, Zu- und Mitarbeiterin und schließlich Ehefrau, hat die Dokumente dieser politischen Seite des Kontakts zu Honecker gesammelt. Bis Anfang der Nullerjahre lagerten sie in einem Reisekoffer in ihrer Wohnung, dem heutigen Sitz der Stiftung. Als Christoph Meyer seine Biografie „Herbert Wehner“ (dtv-Verlag, 2006) schrieb, wurde der Bestand fachgerecht in Archivmappen umgepackt, systematisch ausgewertet und verzeichnet. Im Rahmen der Benutzungsordnung der Stiftung in Dresden ist er der Fachöffentlichkeit zugänglich.
Aus diesem Koffer, dem Bestand „HF“, was für „Häftlingsfreikäufe und Familienzusammenführung“ oder auch „Humanitäre Fälle“, ein Kernelement von Herbert Wehners Engagement steht, stammt das hier vorgestellte Dokument. Es ist Teil einer ganzen Reihe, die jedes für sich und alle zusammen die Bahr-These vom „Verrat“ widerlegen.[1] Es handelt sich um einen handschriftlichen Vermerk des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers, mit schwarzem Filzstift geschrieben, als Anlage zu einem kleinen Anschreiben auf der Rückseite einer Speisekarte, welches Brandt Herbert Wehner wohl am Abend des 19. September 1973 persönlich übergeben hat. Der Kanzler hat darin, anders als Bahr behauptet, nicht nur den Erhalt von dessen Notizen, sondern noch dazu seine Übereinstimmung mit Wehners Position bestätigt: „Spitze der Bundesregierung macht sich zueigen, was Vorsitzender der BT-Fraktion im Anschluss an sein Gespräch vom 31.5.73 festgehalten hat.“
Hier das Dokument direkt aus dem Archiv der Stiftung:
Christoph Meyer
Dieser Artikel wurde veröffentlicht:
Meyer, Christoph (2022): Wehner – die Quellen zählen. Aus dem Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung. In: Mitteilungen des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e.V., Heft 62 (September 2022), S. 22-25
Wehner – der Krimi geht weiter – Teil 1: hier.
[1] Vgl. dazu ausführlich Meyer, Christoph (2013): Der Mythos vom Verrat. Wehners Ostpolitik und die Irrtümer von Egon Bahr, in: Deutschland Archiv Online, 19.12.2013, http://www.bpb.de/175147