Außen- und Deutschlandpolitische Schriften von Wilhelm Wolfgang Schütz

Der Erfinder der Neuen Ostpolitik

Wolfgang Schütz

Wilhelm Wolfgang Schütz
Wilhelm Wolfgang Schütz

In der Herbert-Wehner-Bibliothek vorhanden:

  • Organische Außenpolitik : vom Einzelstaat zum Überstaat / Wilhelm Wolfgang Schütz. Stuttgart : Deutsche Verlags-Anstalt, 1951. – 216 S. HW 0635
  • Das neue England : Staat, Gesellschaft, Lebensformen / Wilhelm Wolfgang Schütz. Stuttgart : Deutsche Verlags-Anstalt, 1953. – 224 S. HW 0633
  • Bewährung im Widerstand : Gedanken zum deutschen Schicksal / gesammelt und hrsg. Von Wilhelm-Wolfgang Schütz. – Stuttgart : Deutsche Verlagsanstalt, 1956. – 121 S. HW 0251
  • Wilhelm Wolfgang Schütz Reform der Deutschlandpolitik : Denkschrift /Wilhelm Wolfgang Schütz. Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt, 1965. – 240 S. HW 0252
  • Der uneigentliche Punkt /Wilhelm Wolfgang Schütz. Köln ; Berlin : Kiepenheuer & Witsch, 1967. – 136 S. HW 1328
  • Deutschland-Memorandum : eine Denkschrift und ihre Folgen / Wilhelm Wolfgang Schütz. Frankfurt am Main : Fischer, 1968. – 159 S. HW 0253

Im April 1953 überreichte Wilhelm Wolfgang Schütz den Wehners sein Buch „Das neue England“ mit der Widmung „Herbert und Lotte Wehner freundschaftlich zugeeignet“. Wehner und Schütz hatten sich spätestens im vorhergehenden Jahr kennengelernt, als sie in deutschlandpolitischen Fragen Kontakte zwischen Jakob Kaiser (CDU) und Kurt Schumacher (SPD) vermittelten. 1954 führte das Bemühen um die Wiederherstellung der deutschen Einheit Schütz und Wehner im neu gegründeten Kuratorium Unteilbares Deutschland zusammen. Als Geschäftsführer organisierte Wilhelm Wolfgang Schütz dieses Gremium bis in die siebziger Jahre hinein erfolgreich als überparteiliche Plattform, auf der jenseits der eng umrissenen Adenauerschen Westbindungspolitik Wiedervereinigungsperspektiven diskutiert und politische Kampagnen zur Demonstration des deutschen Wiedervereinigungswillens entwickelt und durchgeführt wurden. Der Mitbegründer Herbert Wehner blieb einer der Hauptideengeber des Kuratoriums. So war es beispielsweise Herbert Wehner, der nach dem Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR durchsetze, daß in der Bundesrepublik der 17. Juni unter dem Namen „Tag der Deutschen Einheit“ als gesetzlicher Feiertag eingeführt wurde. Der Gestaltung dieses Feiertages nahm sich besonders das Kuratorium an.

Politische Kraft erhielt das Kuratorium aber besonders von seinem Geschäftsführer, der diplomatisches Geschick und Leidenschaft in der Sache mit einem eigenständigen politischen Denken in deutschlandpolitischen Fragen verband. Schon 1958 veröffentlichte er in seiner Schrift „Das Gesetz des Handelns“ die Kapitel „Neue Ostpolitik“ und „Politik der kleinen Schritte“. Mit diesen Begriffen wurde wenige Jahre später die von Willy Brandt symbolisierte Wende in der Ost- und Deutschlandpolitik tituliert.

Wilhelm Wolfgang Schütz schied 1972 aus dem politischen Tagesgeschäft aus, wurde wieder Journalist, vor allem aber Dramatiker, und ist heute in seiner wichtigen Rolle für die Deutschlandpolitik der alten Bundesrepublik fast völlig vergessen. Sein Lebenslauf berührt die Brüche deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert.

Der vergessene Erfinder der Neuen Ostpolitik – Der Jahrhundertlebenslauf des Wilhelm Wolfgang Schütz

Von Christoph Meyer

Berlin, 17. Juni 1961: Willy Brandt mit Sohn als Teilnehmer des Fackelzuges des Kuratoriums Unteilbares Deutschland

Es soll ja Leute geben, die treten in eine Partei ein, um eine politische Karriere zu beginnen. In diesem Fall ist es umgekehrt. Wilhelm Wolfgang Schütz trat am 25. April 1972 der SPD bei – und beendete damit seine politische Karriere.

Zuvor hatte er als Geschäftsführender Vorsitzender nahezu zwei Jahrzehnte lang die Geschicke des Kuratoriums Unteilbares Deutschland geleitet. Damit war Schütz wohl der einzige überparteiliche und gleichzeitig parteilose Spitzenpolitiker, den die Bundesrepublik Deutschland je hatte.

Das „Unteilbare Deutschland“- Zeitgenossen kennen es als Zusammenschluß braver Honoratioren. Sie erinnern sich dunkel an bizarre Aktionen wie „Fahnenstafetten der deutschen Jugend zur Zonengrenze“, Brandenburger-Tor-Nadeln und Kundgebungen zum 17. Juni oder zu Weihnachten Tannenbäume an der Berliner Mauer und Kerzen in den Fenstern. Damit wurde für Deutschlands Einheit demonstriert zu einer Zeit, als die deutsche Teilung fest zementiert war wie nie. „Unheilbares Deutschland“, witzelten spöttische Betrachter.

War er also ein Ritter von der traurigen Gestalt, dieser Wilhelm Wolfgang Schütz, im aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen? Ein „Manager der deutschen Wiedervereinigungsillusionen“, wie ihn abfällig der Politologe Hans-Peter Schwarz charakterisierte? Nein, ein Don Quichotte war Schütz nicht – und er kämpfte auch nicht gegen Windmühlen. Wilhelm Wolfgang Schütz kann auf einen deutschen Jahrhundertlebenslauf zurückblicken.

Die deutsche Heimatfront

Schütz wurde am 14. Oktober 1911 in Bamberg als Sohn eines Fabrikanten geboren. Er verließ sein Elternhaus frühzeitig, um in Heidelberg, München und Prag Staatswissenschaft, Neuere Geschichte, Deutsche Literatur und Kunstgeschichte zu studieren. In seiner Jugend trat er vom jüdischen zum evangelischen Bekenntnis über. Schon das Thema der Dissertation zeigte die Bedeutung der Verbindung von Politik und Literatur für seinen weiteren Lebensweg an. Mit einer Arbeit über „Die Staatsidee des ‚Wilhelm Meister'“ promovierte er 1934 in Heidelberg bei Arnold Bergsträsser.

1935 emigrierte Schütz nach England. Er betätigte sich als Journalist und Korrespondent verschiedener Zeitungen und avancierte 1941 zum Londoner Korrespondenten der renommierten „Neuen Zürcher Zeitung“. In dieser Stellung blieb er bis 1951.

Von Anfang an war Schütz in England neben seiner Arbeit als Journalist auf dem politischen Gebiet tätig. Er versuchte vergeblich, die zerstrittenen deutschen Exilierten zu organisieren. Außerdem setzte er sich „für das echte Deutschland“ ein. Hierfür stand die Freundschaft mit dem Lordbischof von Chichester, George Bell, der als einziges namhaftes Parlamentsmitglied während des Krieges gegen die Bombardierung deutscher Städte eintrat. Dem Bischof widmete Schütz sein 1943 erschienenes Buch „German Home Front“, welches er zusammen mit seiner Frau Barbara Schütz-Sevin verfaßt hatte.

„German Home Front“ ist wahrscheinlich die erste umfassende Veröffentlichung über den deutschen Widerstand. Das Buch sollte die britische Öffentlichkeit davon überzeugen, daß es neben den äußeren Fronten, an denen die deutsche Wehrmacht kämpfte, in Deutschland auch noch eine innere Front, eine Heimatfront gebe, an der sich das nationalsozialistische Regime den Zweifeln der Bevölkerung am eigenen Sieg und einer latent oppositionellen Haltung auf allen Ebenen der Gesellschaft bis hin zu einem eindeutig politischen Widerstand gegenübersehe. Das Echo auf das Buch blieb schwach; Kritiker warfen den Schütz‘ vor, sie seien „Nationalisten“.

In England hatte Wilhelm Wolfgang Schütz Kontakt zu vielen prominenten Emigranten, darunter Stefan Zweig, Erich Ollenhauer, Arthur Koestler und Willi Eichler. Er traf aber auch den späteren indischen Staatsgründer Jawaharlal Nehru, mit dessen Familie ihn eine Jahrzehnte währende Freundschaft verbinden sollte. 1946 lernte Schütz bei einem Besuch in Berlin den CDU-Politiker und späteren Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser kennen, der damals für ein Deutschland als Brücke zwischen Ost und West eintrat. Als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung kam Schütz auch zu Bundeskanzler Konrad Adenauer in Kontakt. Sein Versuch, ein Gespräch zwischen Adenauer und sowjetischen Diplomaten herbeizuführen, um die Möglichkeit einer deutsch-sowjetischen Verständigung zu erkunden, scheiterte. Adenauer befürchtete, dadurch das Vertrauen der Westmächte in seine Politik zu erschüttern.

Das Volk als Träger der Außenpolitik

Nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war, konkretisierte Schütz seine deutschlandpolitische Konzeption in mehreren Büchern. 1951 legte er mit seinem ersten größeren Buch nach dem Krieg seine Politische Theorie der Außenpolitik vor. In „Organische Außenpolitik“ betonte er, daß als Alternative zu einem Freund-Feind-Verhältnis auch eine Neutralitätspolitik möglich sei. Eine „absolutistische These, sei es für, sei es wider die Neutralität“, lehnte er dagegen ab.

Ebenso wichtig für seine spätere Politik war Schütz‘ Verständnis von der politischen Rolle des Volkes. Als Träger der Außenpolitik unterschied er zwischen Herrschaftsgruppen und dem Volk. Es gehöre zum „Wesen der Außenpolitik, daß auch die Masse sich als eine Kraft darin ausdrückt“. Die Führer könnten sich in ihrer außenpolitischen Entscheidung „überhaupt nicht lösen von der inneren Bereitschaft der Nation, sich zu der außenpolitischen Tat zu bekennen, zu welcher die Regierung sie aufruft ­ ob es nun gilt zuzupacken und zu wagen oder zu warten und die Dinge reifen zu lassen“.

Im Jahr darauf erschien „Deutschland am Rande zweier Welten“, eine programmatische Schrift, in der Schütz seine Theorie auf die konkrete Situation in Mitteleuropa anwandte. Da Deutschland bei einer kriegerischen Auseinandersetzung als Schlachtfeld zum Untergang verurteilt sei, bestehe kein Interesse an der US-amerikanischen Politik der Stärke, die einen Krieg als Möglichkeit zur Lösung des Ost-West-Konflikts einkalkuliere. Gegen die offensiven Ziele des Ostens, ein weiteres Vordringen nach Westen, gelte es, eine wirksame Defensive zu stellen. Dem „defensiven Ziel des Ostens“ müsse der Westen aber entgegenkommen, indem er die Nichtbenutzung seines Angriffspotentials „zum Verhandlungsgegenstand im Austausch gegen territoriale Konzessionen“ mache. Ziel der deutschen Außenpolitik müsse die Einigung Deutschlands sein.

Auch dieses Buch schloß mit der Aufforderung, den Willen des Volkes in die politische Kalkulation einzubeziehen. Schütz kritisierte, mit einer Spitze gegen den Bundeskanzler, die Regierenden in Deutschland: „In eigenartig greisenhafter Erstarrung regieren manche kleinen Leute vor sich hin, ohne diejenigen, deren Existenz auf dem Spiele steht, in ständigem Bemühen an die politische Entscheidung heranzuführen.“

Vordenker für Jakob Kaiser, Gegner Adenauers

Im Herbst 1951 holte Jakob Kaiser Schütz nach Bonn und stellte ihn als seinen außenpolitischen Berater an. In den drei Jahren zwischen 1951 und 1954 verfaßte Schütz für den Minister eine Vielzahl von Berichten und Memoranden zur politischen Situation Deutschlands.

Die Kaiser-Historiographie hat geflissentlich übersehen, welch großen Einfluß Schütz auf die politischen Positionen des Adenauer-Gegenspielers in der CDU hatte. Hier ein besonders wichtiges Beispiel: Am 10. März 1952 bot Stalin in einer Note die Einheit Deutschlands als Preis für die militärische Neutralisierung an. Zwei Tage später hielt Kaiser eine Ansprache im Rundfunk, die sein Biograph Kosthorst als „Meisterstück abgewogenen, besonnenen politischen Reagierens“ bezeichnet. Kaiser führte darin aus, die sowjetische Note sei „ein gewichtiges politisches Ereignis“, das bei aller gebotenen Zurückhaltung anerkannt werden müsse. Zwar sei es „verfrüht, auf Einzelheiten einzugehen“, aber die darin enthaltenen Vorschläge bedürften „genauester Klärung“. Denn es dürfe „keine Möglichkeit versäumt werden, Deutschland zur Einheit in Freiheit und zu endgültigem Frieden zu führen“.

Im Privatbesitz von Wilhelm Wolfgang Schütz findet sich ein kurzes, von Schütz verfaßtes Memorandum zum selben Thema. Fast alle Aussagen der Schützschen Ausarbeitung wurden in die Kaiser-Rede eingearbeitet, teilweise wörtlich. Schütz hatte die Vorlage geliefert.

Bundespräsident Theodor Heuss mit Wilhelm Wolfgang Schütz

Zu den von Kaiser gewünschten Verhandlungen über die Note kam es bekanntlich nicht. Schütz war im nachhinein der Auffassung, es habe sich damals eine Gelegenheit geboten, „ernsthaft festzustellen, ob sich ein realer Kern in diesem Verhandlungsangebot befand“, doch in diesem kurzen Augenblick habe die „Staatskunst“ gefehlt, um die Chance zu nutzen, man habe sich für Abwarten und Nichtstun entschieden.

Adenauer wußte, wer hinter den „Extratouren“ seines Ministers steckte. Mehrfach beschwerte der Kanzler sich bei Kaiser. Am 31. Oktober 1952 schrieb Adenauer dem Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, daß „die publizistischen Äußerungen des Herrn Dr. Schütz mit den politischen Anschauungen der Bundesregierung nicht übereinstimmen“ und durch seine Beschäftigung beim Ministerium die Geheimhaltung gefährdet sei. Schütz mußte daraufhin seinen Arbeitsraum aufgeben, blieb aber auf der Gehaltsliste der Behörde.

Es war nicht nur Schütz‘ Einfluß auf Kaiser, den das Adenauer-Lager fürchtete: Auch hinter den zu Adenauer konträren deutschlandpolitischen Vorschlägen des FDP-Politikers Karl-Georg Pfleiderer wurden Schützsche Inspirationen vermutet. Diese Kombination war nicht aus der Luft gegriffen. Zwischen beiden bestand ein freundschaftliches Verhältnis, und am 1. Januar 1957 schrieb Pfleiderer, damals deutscher Botschafter in Jugoslawien, an Schütz: „Du hast die Frage der deutschen Wiedervereinigung im Volk und in der Politik mit glühendem Atem angefacht und ich selbst bin ein Geschöpf Deines Willens und Deiner Gedanken.“ Kritische Artikel des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Paul Sethe, wurden ebenfalls als von Schütz beeinflußt angesehen. Hinzu kam Schütz‘ Freundschaft mit dem FDP-Spitzenpolitiker und damaligen Justizminister Thomas Dehler ­ beide kannten sich seit Schütz‘ Jugend; Dehler war in Bamberg der Anwalt der Familie Schütz gewesen. Auch zur anderen Seite des politischen Spektrums unterhielt Schütz zumindest gute Kontakte. Bei der Annäherung, zu der es kurz vor dem Tod des SPD-Vorsitzenden noch im Sommer 1952 zwischen Jakob Kaiser und Kurt Schumacher kam, vermittelte auf seiten der SPD Herbert Wehner, auf seiten des Ministers für gesamtdeutsche Fragen Wilhelm Wolfgang Schütz.

Als im Juni 1954 der Kreis um Jakob Kaiser, die adenauerkritischen FDP-Teile um Thomas Dehler und die Sozialdemokraten daran gingen, mit dem Kuratorium Unteilbares Deutschland eine „Volksbewegung für die Wiedervereinigung“ zu gründen, war Schütz von Anfang an dabei. Dennoch suchten die Gründer, wohl um Adenauer nicht zu provozieren, zunächst nach einem anderen Geschäftsführer für das Kuratorium. Doch alle Kandidaturen – ob die des Berliner Rechtsanwaltes Hellmut Becker oder des Redakteurs der Süddeutschen Zeitung, Hans Schuster, zerschlugen sich. Am Ende lag die Leitung des Kuratoriums de facto doch in den Händen von Schütz. Der offizielle Titel „Geschäftsführer Vorsitzender“ folgte 1957.

„Neue Ostpolitik“ und „Politik der kleinen Schritte“

Otto Dix: Plakat des Kuratoriums

Unteilbares DeutschlandAuch in diesem Amt trug Schütz Wesentliches zur deutschlandpolitischen Debatte bei. 1958 erschien „Das Gesetz des Handelns“, ein weiteres Buch zur deutschen Frage. Darin forderte er, „sich mit kühnem Blick dem Elend zuzuwenden, in dem vor allem die deutsche Frage zu versacken droht“. Das „harte, unerbittliche Festhalten an deutscher Einheit“ bahne den Weg zur Freiheit. Aber „brennende Aufgabe deutscher Politik und deutschen Verhaltens“ sei auch, „das Los der Bevölkerung in Mitteldeutschland zu erleichtern, die Teile Deutschlands menschlich, geistig, technisch zu verklammern, die Bedrückung zu mildern“. Die Kapitel XVII und XVIII waren überschrieben mit „Neue Ostpolitik“ und „Politik der kleinen Schritte“. Was Schütz in dieser Abhandlung beschrieb, begannen Sozialdemokraten und Liberale von West-Berlin aus in den sechziger Jahren zu praktizieren. Und es war Wilhelm Wolfgang Schütz, der die Begriffe für die Neuorientierung der Ost- und Deutschlandpolitik prägte. Erstaunlich, daß die Geschichtsschreiber und (Auto-)Biographen der Bundesrepublik und ihrer Politiker ihn so nachhaltig übersehen.

Um so erstaunlicher, weil Wilhelm Wolfgang Schütz in ständigem Dialog mit den politisch Handelnden stand. In den Jahren 1962/63 führte er drei mit der Bundesregierung abgestimmte „Missionen“ des Kuratoriums zu den Vereinten Nationen durch. In den Akten finden sich zahlreiche Gesprächsnotizen und Gedächtnisprotokolle. Zu seinen Gesprächspartnern im Kuratorium und darüber hinaus zählten sowohl die SPD-Politiker Wehner, Brandt und Ollenhauer, Dehler und Mende von der FDP, als auch Kaiser, Lemmer, Gradl und Gerstenmaier von der CDU. Schütz fand das Gehör des Bundespräsidenten Lübke, und während der Berlinkrise wurde er auch zum Gesprächspartner des zuweilen ratlosen Kanzlers Adenauer. Dabei kam allerdings nicht viel heraus. Am 5. September 1962 zum Beispiel notierte Schütz resignierend: „Es bleibt nach diesem Gespräch der deprimierende Eindruck, dass grosse und weitreichende Entschlüsse bei aller Schnelligkeit der Auffassung und des Urteils, die dem alten Herrn nach wie vor zu eigen sind, doch nicht mehr erwartet werden kann. Initiativen der anderen werden z.T. wohlwollend registriert, vor eigenen Initiativen verschliesst und verkrampft er sich innerlich.“

Schütz drängte immer wieder auf eine „aktive Politik der Wiedervereinigung“, auf ständige deutsche Initiativen und Verhandlungsvorschläge. Gerade zur Zeit des Mauerbaus drang er damit bei Adenauer jedoch nicht durch. Die Zeit für die von Schütz angemahnte durchgreifende „Reform der Deutschlandpolitik“ – so der Titel seines Buches von 1965 – kam erst gegen Ende der sechziger Jahre.

Abschied vom Konsens: Zwei Staaten – eine Nation

Auch hierzu trug Schütz bei. In der Denkschrift „Was ist Deutschland?“ formulierte er im Herbst 1967 die These, daß Bundesrepublik und DDR Gliedstaaten auf dem Gebiet des geteilten Deutschland seien, das als Nation fortbestehe. Auf der Grundlage einer Anerkennung dieser Realitäten, also sowohl der Zweistaatlichkeit als auch der Einheit der Nation, sollten beide deutsche Staaten gleichberechtigte Beziehungen zueinander aufnehmen.

Für einige Politiker der Union war dies zuviel. Sie warfen Schütz vor, die überparteiliche Plattform des Kuratoriums verlassen zu haben. Im Dezember 1967 kam es zu hitzigen Debatten und heftigen öffentlichen Diskussionen über die Denkschrift. Darin zeichneten sich die ost- und deutschlandpolitischen Streitlinien der 70er Jahre bereits ab. Für die Geschichte des Kuratoriums Unteilbares Deutschland ebenso wie für die politische Laufbahn von Wilhelm Wolfgang Schütz markierte das Jahr 1967 den entscheidenden Wendepunkt. Von da an gab es kein Zurück mehr zu einer Beschränkung auf überparteiliche Bekundungen des Wiedervereinigungswillens. Da die deutschlandpolitischen Gemeinsamkeiten zwischen Union und SPD Ende der 60er Jahre zunehmend schwanden, mußte eine gemeinsam getragene überparteiliche Organisation auf diesem Gebiet an Bedeutung verlieren. Das konnte für Schütz‘ Rolle in der Politik nicht ohne Konsequenzen bleiben.

Zunächst ging er aber politisch gestärkt aus den Auseinandersetzungen um seine Denkschrift hervor. Ein großer Teil der öffentlichen Meinung stellte sich hinter Schütz. Bundeskanzler Brandt machte sich die These von den zwei Staaten in einer Nation in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 zu eigen. Auch für die „20 Punkte“, die Brandt im Mai 1970 dem DDR-Ministerratsvorsitzenden Stoph vorschlug, hatte Schütz Vorarbeiten geleistet.

Als am 24. April 1972 die CDU/CSU-Opposition ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Willy Brandt einbrachte, schrieb Schütz an den Kanzler, er könne „eine politische Abstinenz in Auseinandersetzungen, die klarer Stellungnahme bedürfen“, nicht mehr verantworten. Am folgenden Tag erklärte er seinen Beitritt zur Berliner SPD und begründete das mit der Notwendigkeit der Ostpolitik: „Die Selbstbestimmung der Deutschen und eine aus freier Entscheidung hervorgehende Einigung in Deutschland und Europa hängen von allmählicher Verringerung von Gegensätzen und von schrittweiser Verständigung ab. Hier darf kein Risiko eingegangen werden.

Politischer Dramatiker

Mit dem Parteibeitritt gelang es Schütz am Tag des Mißtrauensvotums zum letzten Mal, mit einer politischen Initiative ein breites Presseecho in der Bundesrepublik Deutschland zu erzielen. Herbert Wehner bot ihm für die kommenden Neuwahlen ein Bundestagsmandat an, doch Schütz lehnte ab. Er siedelte mit seiner zweiten Frau Sigrid in die Schweiz um und kehrte in seinen alten Beruf als Journalist und Schriftsteller zurück. Während der siebziger und achtziger Jahre leitete er noch die wissenschaftlichen Arbeitskreise des Kuratoriums Unteilbares Deutschlands. Nach einer kurzen Amtszeit als Chefredakteur des St. Galler Tagblatts konzentrierte er sich auf das Schreiben von Theaterstücken, welche durchaus Aufmerksamkeit fanden. Ein Stück wurde gar fürs Fernsehen verfilmt, aber vom Sendeplan des ZDF abgesetzt, weil darin Anspielungen auf den CSU-Politiker Franz-Josef Strauß vermutet wurden. Schütz‘ Dramen haben allesamt politische Bezüge, ja sie sind zum Teil als Schlüsselstücke anzusehen. Sie tragen Titel wie „Requiem für Clausewitz“, „Anleitung für einen Reichsverweser“, „Galopp rechts“ und „Vom freien Leben träumt Jan Hus“.

In letzterem Stück findet sich auch Adenauer verewigt, allerdings verdreifacht, in der Gestalt dreier greiser Gegenpäpste. Zur 3. Szene heißt die Regieanweisung: „Como. Garten am See. Sonniger Tag. Cossa, Correr, Luna stülpen ihre päpstlichen Tiaras auf den Gartenzaun. Sie holen Boccia-Kugeln und spielen Boccia.“ Und überlegen dann, wie sie das Abendland vor Einmischungen von außen, Rebellionen und Ketzertum verteidigen können.

Wilhelm Wolfgang Schütz gehört zu den Erfindern der Neuen Ostpolitik. Er hat zeitlebens für eine aktive Politik des Friedens und fest im freiheitlichen Lager gegen die Ost-West-Spaltung gestanden. Anhand seiner Biographie wird deutlich, daß die Ostpolitik nicht einfach (wie es manche Politiker und auch Wissenschaftler heute gerne hinstellen) eine Ergänzung zur Adenauerschen Politik der Westbindung darstellte, sondern auch einen deutlichen Bruch mit der Adenauerschen Spaltungspolitik bedeutete. Schütz war ein großer Kommunikator, Literat, Journalist und Politiker. Er hatte die Gabe, Menschen im Gespräch zu begeistern, sie zusammenzuführen im Denken und Handeln. Als Charakteristika blieben seit der Emigration bestimmend: das optimistische Vertrauen in die Haltung der deutschen Bevölkerung, das Bestreben, die Gemeinsamkeit der Parteien in Fragen von nationaler Bedeutung herzustellen, und der Wunsch, eine Verständigung zwischen West und Ost herbeizuführen.

Am 4. Mai 1972 schickte Schütz ein kleines Memorandum an Herbert Wehner. Darin hieß es unter anderem: „Konrad Adenauer, dessen kluge Politik im Westen zur Aussöhnung führte, verließ sich im Osten auf Abwarten. Nicht einmal schriftliche Zusagen, wie er sie noch von Bulganin erhielt, erwiesen sich als tragfähig. Die Deutschen haben im vergangenen Jahrhundert mit Abwarten entscheidende Möglichkeiten der Sicherung und der Zukunft versäumt. Eingebracht hat solche Politik, die sich an Träumen orientiert, nur Zusammenbrüche und unsagbares Leid.“ Die Kritik an Adenauer war die einzige Stelle aus dem Schütz-Papier, die Willy Brandt nicht nahezu wörtlich in seine Regierungserklärung zur Ratifizierung der Ostverträge übernahm.

Mit seinem Handeln wie mit seinem politisch-publizistischen Werk bildet Schütz die Brücke zwischen der Politik Jakob Kaisers in den vierziger und fünfziger Jahren und der sozial-liberalen Ost- und Deutschlandpolitik. Leider hat er keine Autobiographie geschrieben. Reminiszenzen und Selbstbeweihräucherung haben ihn nicht interessiert. Bis ins hohe Alter hat er stets den Drang verspürt, an der Gestaltung der Gegenwart mitzuwirken.

Seit Mitte der neunziger Jahre lebt Wilhelm Wolfgang Schütz wieder in Deutschland, zurückgezogen, in einem Dorf in der Eifel. Am 14. Oktober 2001 wird er 90 Jahre alt.

Außen- und Deutschlandpolitische Schriften von Wilhelm Wolfgang Schütz