Bemühungen um Freiheit im geteilten Deutschland
1973: Herbert Wehner und der Anwalt Wolfgang Vogel im ständigen Kontakt mit Erich Honecker
Vor 50 Jahren, am 17. September 1973, schrieb Herbert Wehner einen siebenseitigen stenographischen und handschriftlichen Vermerk zur weiteren Gestaltung der Bemühungen um die Freiheit Ausreisewilliger aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Zahlreichen Menschen konnte auf diesem Wege geholfen werden – und gleichzeitig wurde ein wichtiger Kanal zur Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen eingerichtet. Aus Anlass des Jubiläums hier einiges zum Hintergrund – und zum Schluss die Dokumente zum Herunterladen!
Schon seit den sechziger Jahren unterstützte Herbert Wehner die Bemühungen der Bundesregierung, über den DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel politische Häftlinge und Ausreisewillige aus der DDR freizukaufen.
Geld gegen Menschlichkeit, so lautete das Geschäft.
Brandt-Berater Egon Bahr fand aber, das Zahlen von „Kopfgeldern“ sei „Menschenhandel“ und ein unwürdiger Zustand. 1972 schlug er in Gesprächen mit DDR-Funktionären vor, die Anwaltsebene auf den Austausch von Agenten zu reduzieren, Häftlingsfälle und Familienzusammenführungen aber zum Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Regierungen zu machen. Seine Gesprächspartner schienen darauf eingehen zu wollen. Wehner dagegen war entsetzt. Bahr, so sagte er voraus, werde nicht auf Gegenliebe stoßen, der Osten werde den Handel beenden. Er behielt Recht. Die Anwaltsebene wurde außer Kraft gesetzt, aber ein Ersatz wurde nicht geschaffen. Es gab nun keine Gesprächs- und Kontaktmöglichkeit über solche humanitären Fragen mehr. Menschen, denen im Dezember 1972 bereits die Ausreise genehmigt worden war, wurde die Bewilligung wieder entzogen.
So entstanden die legendären „Kofferfälle“. Buchstäblich auf gepackten Koffern saßen Bürger, die alle Vorkehrungen für die Übersiedlung in den Westen getroffen hatten: Hab und Gut verkauft, Wohnungen und Arbeitsplätze aufgegeben. Wolfgang Vogels Liste wuchs. Im Dezember 1972 enthielt sie 13 Fälle, im Februar 1973 waren es schon 71, im Frühling waren hunderte Personen betroffen. Der Anwalt wandte sich an Herbert Wehner. Vogel erinnerte sich, dass Wehner fragte, wer etwas tun könne, um den Menschen zu helfen. „Das kann nur die Nummer Eins“, also Honecker, antwortete der Anwalt. „Dann fahre ich hin“, entschied Wehner.
Nach Abstimmung mit Willy Brandt fuhren Herbert und Greta Wehner am 30. Mai 1973 nach Ost-Berlin. Am 31. Mai trafen sie sich zu längeren Gesprächen mit Erich Honecker. Das
Foto von Wehner, Honecker und dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnick, der von einem Besuch bei Verwandten in Dresden hinzugekommen war, bei Kaffee und Kuchen, erschien am 1. Juni 1973 auf der Titelseite des SED-Zentralorgans Neues Deutschland.
Die Gespräche waren erfolgreich: Erstens durften die auf gepackten Koffern sitzenden Menschen ausreisen. Honecker hob die Sperre auf. Der humanitäre Zweck war erreicht. Der SED-Chef ließ Wehner einige Monate später mitteilen, er habe unmittelbar nach dem 31. Mai wieder in Gang gesetzt, „was unter Herrn Bahr überhaupt nicht mehr funktioniert hat“; es seien schon etwa 300 Personen ausgereist. Zum zweiten wurde eine feste Schiene Wehner-Vogel-Honecker eingerichtet, über welche politischbrisante Fälle geregelt und darüber hinaus die deutsch-deutschen Beziehungen insgesamt besprochen wurden. Die jeweiligen Kanzler, Willy Brandt und Helmut Schmidt, setzte Herbert Wehner mit seinen stenographischen und handschriftlichen Mitschriften von den Gesprächen stets genau in Kenntnis.
Wohl mehrere Tausend Menschen haben diesen stillen Bemühungen ihre Freiheit zu verdanken. Mit dem Treffen vom 31. Mai 1973 führte Herbert Wehner die bis 1989 reichende lange Reihe von
westdeutschen Politikern an, die ihre Besuche bei Honecker dazu nutzten, die Anliegen von Menschen mit Ausreisewünschen vorzubringen.
Weiter vorangetrieben wurde dies infolge des Vermerks, den Herbert Wehner am 17. September 1973 schrieb und welchen er sowohl an Willy Brandt als auch an Erich Honecker weiterleitete. Das Original befindet sich im Archiv der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung in Dresden. Hier ist es: zur Quelle HGWST-HF 45, siehe auch http://www.hgwst.de/hgwst/wp-content/uploads/2016/07/13Wechsel-www.pdf