Ein großer Sozialliberaler wird 100

Wolfgang Mischnick zum Geburtstag

Wolfgang Mischnick, Bundestagspräsident Gustav Heinemann und Herbert Wehner

Der langjährige FDP-Fraktionsvorsitzende und ehemalige Bundesminister Wolfgang Mischnick wäre am 29. September 100 Jahre alt geworden. Die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung würdigt den Weggefährten Herbert Wehners, den großen aus Dresden stammenden Sozialliberalen Mischnick. „Mit Wehner war Mischnick der Garant für den langjährigen Bestand der Regierungskoalition aus SPD und FDP.“

Im Einzelnen schreibt Wehner-Biograph und Stiftungsvorstand Christoph Meyer:

<Wolfgang Mischnick war unentbehrlich für den Erfolg der sozial-liberalen Koalition. Herbert Wehner hatte diesem Bündnis 1969 sehr skeptisch gegenübergestanden. Schließlich war ihm Anfang der 1960er Jahre zu Ohren gekommen, dass die Industrie dem damaligen FDP-Chef Mende mit großzügigen Spenden das Versprechen abgekauft hatte, eine SPD-Regierungsbeteiligung auf jeden Fall zu verhindern. Das war eines der wichtigsten Motive, weshalb Wehner in den folgenden Jahren zum Wegbereiter der ersten Großen Koalition (1966 bis 1969) wurde.

Mit dem 1921 in der Dresdner Neustadt geborenen Wolfgang Mischnick klappte die Zusammenarbeit dagegen reibungslos. Es stellte sich schnell ein ausgesprochenes, von gegenseitiger Wertschätzung geprägtes Vertrauensverhältnis ein. Insbesondere in der Deutschlandpolitik fanden sich zwei Politiker aus Sachsen, die für die Menschen in ihrer Heimat auch im geteilten Deutschland das Höchstmaß an innerdeutschen Kontakten, Begegnungen, Reisen herausholen wollten. Mischnick erinnerte sich 1999 an diese Zusammenarbeit: „Wir waren daher nie in einer Situation, in der einer von uns beiden das Gefühl hatte, er würde vom anderen über den Tisch gezogen. Das ist nie der Fall gewesen. Wenn es Dinge gab, in denen man sich nicht verständigen konnte, dann hat man nach Wegen gesucht, wie man diesen Punkt eine Zeit lang ausklammern konnte, um ihn dann später wieder aufzunehmen. Es ist eben nie versucht worden, dem anderen bestimmte Sachen aufzudrücken oder gegen ihn bestimmte Sachen durchzusetzen. Dresden hat insofern eine Rolle gespielt, als wir natürlich beide daran interessiert waren, dass die Deutschlandpolitik vorangebracht wurde, dass man in der Deutschlandpolitik die Verbindung zu den Menschen halten konnte, denn das war nach dem Mauerbau besonders notwendig.“ (BR-alpha).

31.5.1973, im Uhrzeigersin: Herbert Wehner, Erich Honecker, Wolfgang Mischnick, Greta Burmester (später Wehner)

So war es Mischnick, der – solidarisch wie er war – sich im Mai 1973 mit an den Tisch setzte, als es bei Honecker in der Schorfheide um die Rettung der Familienzusammenführung ging. Auch aus Verzweiflung über die Schicksale von Menschen aus seiner Heimat war Herbert Wehner mit Greta in die DDR gereist, um denjenigen zu helfen, die schon auf gepackten Koffern saßen, aber nicht ausreisen konnten, weil es nach der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags zu Irritationen gekommen war. Mischnicks Dabeisein diente unter anderem der innenpolitischen Absicherung – so war Wehners Reise in den Osten eben kein Alleingang, und die Vorwürfe einer Kumpanei mit den kommunistischen Machthabern prallten – dank Mischnick – einstweilen an ihm ab.

Von entscheidender Bedeutung war das Zusammenspiel der beiden Dresdner Herbert Wehner und Wolfgang Mischnick für das Zustandekommen einer grundlegenden ordnungspolitischen Leistung der SPD/FDP-Koalition: des Mitbestimmungsgesetzes von 1976. Mischnick erinnerte sich an die Basis zwischen ihm und Wehner, „die auch bei schwierigen Fragen wie zum Beispiel bei der Mitbestimmung, als es darum ging, das Mitbestimmungsgesetz zu ändern, dazu geführt hat, dass in den Gesprächen zwischen Wehner und mir eine Lösung zustande kam, die sich auch heute noch bewährt, wie ich glaube sagen zu können.“ (ebd.)

Wie wichtig das war, ist in der deutschen Öffentlichkeit bisher kaum gewürdigt worden. Auch im Wikipedia-Eintrag zu Wolfgang Mischnick fehlt diese Leistung in der Rubrik „Politische Initiativen“. Da gibt es nur etwas zu einem nicht realisierten rentenpolitischen Vorschlag von 1963 und ein paar Anmerkungen zu „Sportpolitik“. „Regelmäßig wurde bei der FDP ein Tennisturnier um einen Wolfgang-Mischnick-Pokal ausgetragen.“ Das ist ja interessant, aber mir scheint es nicht nur bei der Sozialdemokratie, sondern auch bei den Liberalen so ein paar Aufarbeitungslücken in der Geschichte geben. In diesem Fall ist es eine Würdigungslücke, hier also noch einmal die Sache mit der Mitbestimmung:

Partner: Wolfgang Mischnick und Herbert Wehner (1974)

Beim Thema Mittbestimmung gab es zwischen den Sozialpolitikern der SPD und den Wirtschaftspolitikern der FDP eigentlich kaum Verständnis. Auf der einen Seite standen Wirtschaftsliberale wie Martin Bangemann und Otto Graf Lambsdorff, auf der anderen Seite gab es Gewerkschafter wie den Bundesarbeitsminister Walter Arendt. Der überlegte vor lauter Frust mit den Liberalen im Sommer 1975 schon, seinen Rücktritt einzureichen. Da schaltete Wehner sich ein. Er stimmte sich mit Bundeskanzler Helmut Schmidt ab, und Arendt übertrug ihm selbst die Federführung bei den Verhandlungen. Gemeinsam mit Mischnick fand er einen Kompromiss: Paritätisch besetzte Aufsichtsräte, allerdings mit einer Zusatzstimme für den Vorsitzenden in Pattsituationen. Gemeinsam machten die beiden Dresdner Herbert Wehner und Wolfgang Mischnick die Verhandlungen zur Chefsache und brachten sie zum Erfolg. Herbert Wehner und Wolfgang Mischnick sind die Väter der deutschen Mitbestimmung.

Gewiss waren Wehner und Mischnick in vielen Situationen Krisenmanager der Koalition. Ihre lange, fast dreizehnjährige Dauer ist nicht zuletzt auf das geräuschlose Zusammenspiel dieser beiden zurückzuführen. Nicht von ungefähr rührt es, dass das Bündnis zu Ende ging, als die Kräfte des einen Garanten, Herbert Wehner, Anfang der 80er Jahre spürbar nachließen. Wolfgang Mischnick jedenfalls, dem das Ende der Zusammenarbeit mit Wehner auch menschlich naheging, bewahrte Herbert Wehner in ausgesprochen guter Erinnerung. Das habe ich selbst auch gespürt, als ich ihn vor etwa 20 Jahren am Rande einer Veranstaltung in Dresden einmal darauf angesprochen habe. Leider ist Wolfgang Mischnick bald darauf gestorben – schade, das wäre unter anderem auch ein hochinteressanter Gesprächspartner für meine Wehner-Biographie gewesen!

Ja, und heute, was bleibt? Sozialdemokratie und Liberale stehen möglicherweise wieder einmal vor einer historischen Zusammenarbeit. Ob es da wieder Persönlichkeiten vom Schlage und Format eines Wolfgang Mischnick geben wird, die helfen, die Brücken zwischen zwei Parteien mit gemeinsamen historischen Wurzeln zu schlagen? Zu hoffen ist es. Und es lohnt sich, mit Dankbarkeit an das zu erinnern, was die beiden großen Dresdner Demokraten Herbert Wehner und Wolfgang Mischnick vor beinahe fünf Jahrzehnten gemeinsam für die Menschen und die Demokratie in Deutschland geleistet haben.>

Ein großer Sozialliberaler wird 100