Viel Schönes über Willy Brandt
Rezension zu: Hofmann, Gunter (2023): Willy Brandt. Sozialist – Kanzler – Patriot. Eine Biographie. München: C.H. Beck, 517 Seiten.
Von Christoph Meyer, Vorsitzender der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung
Mit Gewinn habe ich das neue Willy-Brandt-Buch von Gunter Hofmann gelesen. Auch wenn es wenig neue Fakten enthält, gelingt es dem Zeit-Journalisten und Kenner der zeitgenössischen Bundesrepublik , ein konturiertes Bild des großen Sozialdemokraten und Kanzlers zu zeichnen, fußend vor allem auf den autobiographischen Schriften des 1991 verstorbenen Friedensnobelpreisträgers. Dabei geht es vor allem um Brandts Denken und Innenleben – eine Lebensgeschichte im engeren Sinne ist Hofmanns Buch eher nicht.
Der Autor Gunter Hofmann, das muss hier vermerkt und positiv hervorgehoben werden – es ist in der Zunft sonst durchaus nicht üblich –, hat sich die Mühe gemacht, auch persönlich nach Dresden in unsere Stiftung zu kommen, um sich ein besseres Bild vom Verhältnis zwischen Willy Brandt und Herbert Wehner zu machen. Herausgekommen ist ein ganzes Kapitel „Der andere ‚andere Deutsche‘: Herbert Wehner“, mit einigen zutreffenden Feststellungen. Verbunden mit dieser Geschichte komme ich nun selbst als „Figur“, als Wehner-Biograph, bei Hofmann vor, sogar mit lobender Erwähnung: „Wer um eine Ehrenrettung Wehners bemüht ist, konnte es kaum besser machen.“ (S. 336)
Das ist allerdings ein durchaus dorniges Lob, denn in wesentlichen Punkten ist Gunter Hofmann meinen Auffassungen bzw. den Ergebnissen meiner Forschungen nicht gefolgt. Wer mich kennt, wird sich nicht wundern, und ich muss es wenigstens zu Protokoll geben: Überzeugt hat mich nicht alles.
Einige Rezensenten (Bernd Rother, Ernst Piper) haben ja schon auf schwerwiegende Fehler in Hofmanns Buch hingewiesen, etwa die Behauptung, die Mehrheit der SPD-Reichstagsfraktion habe 1933 das Ermächtigungsgesetz gutgeheißen. Was Angaben zu Herbert Wehner betrifft, finden sich bei Hofmann ebenfalls zahlreiche Fehler. Ehe ich zur Wertung komme, daher einige Anmerkungen zu falschen Fakten:
- Hofmann betitelt Wehner mit „ehemaliger sächsischer KPD-Fraktionschef“ (S. 300). Das ist falsch. Herbert Wehner war 1930/31 lediglich stellvertretender Vorsitzender der KP-Fraktion im sächsischen Landtag. Der Vorsitzende hieß Rudolf Renner.
- Herbert Wehner durfte aus Moskau nicht erst „1942“ nach Schweden ausreisen, sondern schon zum Jahreswechsel 1940/41. Er wurde dort also nicht „noch im selben Jahr“ (S. 304) verhaftet, sondern erst nach über einem Jahr illegalem Aufenthalt in Stockholm.
- Herbert Wehner heiratete „die deutsche Emigrantin Charlotte Burmester“ nicht im Jahr 1944 (S. 305), sondern erst im Februar 1953.
- Erstmals 1946 in der „Hamburger Redaktion des sozialdemokratischen Echo“ sei Brandt Herbert Wehner begegnet (S. 123 und 300). Das ist wenigstens unwahrscheinlich, denn Herbert Wehner, im Spätsommer 1946 aus Schweden nach Hamburg gekommen, trat erst im April 1947 in die Redaktion des Blattes ein.
- Nach 1957 sei es, so Hofmann, „zu einer neuerlichen Kampagne gegen ihn“, Wehner also, nicht mehr gekommen. Das stimmt so nicht. Gewiss bildete das Jahr 1957 den Höhepunkt der Kampagnen Adenauers und der CDU gegen Wehner. Doch danach erschien Weiteres. Aus unionsnahen Kreisen kam im Wahlkampf 1961 das Pamphlet „Was will Herbert Wehner?“; aus CSU-Quelle erschien, in mehreren Auflagen zu Beginn der 1970er Jahre, das „Rotbuch“ mit den Fragen „Wer ist Willy Brandt/Wer ist Herbert Wehner/Wer ist Helmut Schmidt“. Zu den rechten und rechtsextremen Verleumdern gesellte sich bei Herbert Wehner von Anfang an die SED. Und aus den eigenen Reihen, also SPD-nahen Kreisen, kam 1967 die „Heckenschützenaffäre“, eine Verleumdungskampagne, der die ehrwürdige „Zeit“ breiten Raum einräumte – der Widerlegung allerdings inklusive.
- Der Verleumder Hans Frederik, so Hofmann, habe sich „Brandt und seine Vergangenheit zum Lieblingssujet erwählt“ (S. 202). Ja? Über Herbert Wehner hat Frederik von 1969 an in mindestens neun Auflagen sein pamphletartiges, dickleibiges Buch „Gezeichnet vom Zwielicht seiner Zeit“ in Umlauf gebracht.
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Zu den Verleumdungskampagnen gegen Herbert Wehner möchte ich – wenigstens teilweise – auch die Berichterstattung zu seiner Reise mit einer Delegation des Deutschen Bundestages in die Sowjetunion im September 1973 zählen. Denn in der unionsnahen und rechten Tagespresse setzte bereits zeitgleich mit den ersten, leicht kritischen Äußerungen, die Herbert Wehner in Moskau über den Zustand der bundesdeutschen Ostpolitik tat, eine Kampagne ein, die darauf zielte, Wehner gegen Brandt (und Scheel!) auszuspielen. Diese Kampagne, welcher Herbert Wehner durch ungeschickte Äußerungen teils selbst Nahrung gab, erreichte 1973 ihr Ziel nicht, hatte aber – bis hinein in Brandts „Notizen zum Fall G.“, welche Hofmann immer wieder heranführt – und bis in Hofmanns Buch selbst – Langzeitwirkung. Ich bleibe aber dabei: Wenn Hofmann (auch hier Brandt folgend) schreibt: „Herbert Wehner orakelte, der Regierung fehle ein Kopf“ (S. 17), so ist dies eine unzureichende, irreführende Verkürzung dessen, was Wehner in Moskau wirklich gesagt hat. Nach dem „Kopf“ kam im Original ein Relativsatz, aus dem klar hervorgeht, dass diese Attacke nicht auf Brandt gemünzt war (vgl. z.B. Christoph Meyer, Der Mythos vom Verrat. Wehners Ostpolitik und die Irrtümer von Egon Bahr, in: Deutschland Archiv Online, 19.12.2013, http://www.bpb.de/175147).
Nach der Lektüre des Buches von Hofmann nehme ich an, dass Willy Brandt derjenige sozialdemokratische Politiker gewesen sein kann, der am meisten unter den verleumderischen Attacken gegnerischer Kreise (die „norwegische Uniform“) gelitten hat. Den meisten, langwierigsten, schwerwiegendsten und vielfältigsten verleumderischen Attacken war dagegen zeit seines Lebens und auch danach Herbert Wehner ausgesetzt. Hier scheint es, dass (als Biograph mag ich aber selbst von so etwas auch nicht ganz frei sein) Gunter Hofmann seinen Fokus allzu sehr auf Willy Brandt verengt hat.
Obwohl auch er unter den Verleumdungen sehr gelitten hat: Herbert Wehner, das nehme ich nach der Lektüre von Hofmann weiter an, war dann doch aus härterem Holz geschnitzt als Willy Brandt. Das erklärt womöglich sein Verhalten in der Rücktrittsaffäre nach der Enttarnung des DDR-Spions Guillaume wesentlich besser als eine vermeintliche „Konspiration Wehner/Honecker“ (S. 294), für welche auch Hofmann außer den mutmaßlich aus Mutmaßungen von Egon Bahr gespeisten Mutmaßungen von Willy Brandt keine soliden Quellen nennt. Und dass dann Hofmann wiederum mit Brandts von Bahr gespeisten Notizen die Invektiven desselben Egon Bahr von 2013 adelt, gehört in die Kategorie historischer Zirkelschluss auf tönernen Füßen.
Zu meiner Auffassung über Wehners Rolle (oder eben auch: Nicht-Rolle!) beim Rücktritt Brandts noch dies: Ich habe hier nicht Herbert Wehner zu verteidigen, eine „Ehrenrettung“ ist nie meine Absicht gewesen. Wenn Herbert Wehner 1974 zu der Auffassung gelangt sein sollte, Willy Brandt sei nicht mehr regierungs- und handlungsfähig, dann wäre es geradezu staatspolitisch geboten gewesen, ihm den Rücktritt zu empfehlen. Dies hat Wehner nicht getan, er sah die Entscheidung bei Brandt. Wehner verhielt sich solidarisch; dabei galt seine Loyalität sowohl Brandt als auch der Partei als auch Land und Menschen.
Wenn es bei Hofmann heißt, in den Notizen zum Fall G., Brandt „erkennt Wehner als aktiven Drahtzieher“ (S. 298), dann muss meinerseits, aus den Quellen schöpfend, dazu gesagt werden: Hier irrt Willy Brandt. Und Irren ist menschlich.
Über Wehners ingeniösen Beitrag zur Entspannungspolitik, der es ebenso wie derjenige von Willy Brandt nicht verdient, relativiert zu werden, habe ich an anderer Stelle schon geschrieben. Ich könnte also meine Bücher „Die deutschlandpolitische Doppelstrategie“ und „Herbert Wehner“ des längeren zitieren und solchen Relativierungen, wie sie auch bei Hofmann vorkommen, entgegensetzen, aber es ist hier jetzt auch so schon lang genug.
Am Ende ist das das wesentliche Verdienst des schönen Buches von Gunter Hofmann: Die menschliche Seite des Ausnahmepolitikers Willy Brandt, sein politisches Denken und die Entwicklung seines Denkens und Handelns aus einer zutiefst humanitären, sozialen und demokratischen Überzeugung glaubwürdig dargestellt zu haben. Auch wenn ich es am Ende bedauere, dass Hofmann zu dem Schluss kommen muss, Brandt sei jemand, mit dem „wir“ uns versöhnt haben, den wir „für uns vereinnahmen“ und „illuminieren“, den wir „auf den Sockel stellen konnten – der aber keinen Stachel mehr hat.“ So harmlos? Das ist schon etwas schade.