Greta Wehner Ehrenmitglied der SPD Sachsen

Beeindruckende Rede zur Ehrenmitgliedschaft

Bonner Sozialdemokratin nimmt Ehrung für Herbert Wehner in seinem Heimatland an

Für Greta Wehner eine besondere Premiere: Am 5. Oktober 1991 sprach sie zum ersten Mal in der sächsischen Stadt Leipzig. Anlass des Aufenthalts war eine Veranstaltung des SPD-Landesverbands Sachsen, in dem die Witwe Herbert Wehners die Ehrenmitgliedschaft der sächsischen SPD annahm. Knapp fünf Jahre später zog sie nach Dresden um und erwarb damit die reguläre Mitgliedschaft in dem Landverband. Aus Anlass der Ehrenmitgliedschaft hielt Greta Wehner eine beeindruckende Rede, welche wir hier – auch als Denkanstoß zu ihrem 98. Geburtstag am 31. Oktober 2022 – im Wortlaut dokumentieren:

(HGWST-WV 41-017)

„5. Okt. 1991
Leipzig

Ich möchte für die Ehrung danken, die Ihr Herbert Wehner erwiesen habt, indem Ihr mich stellvertretend für ihn zum Ehrenmitglied unserer Sozialdemokratischen Partei in Sachsen ernannt habt.

Als ich von dieser Absicht erfuhr, war ich freudig erschrocken und habe mich mehrfach gefragt, ob ich Euren Erwartungen, die damit verbunden sind, gewachsen bin.

Soweit meine beschränkten Kräfte reichen hoffe ich, daß ich zumindest dem einen oder anderen hier, in Herberts Sächsischer Heimat Mut vermitteln kann, auch unter schwierigen Umständen nicht zu verzagen, sondern gewiß zu sein: Mitmenschliches Handeln und Mitwirken beim sozialen Ausbau unserer Demokratie wird immer eine sinnvolle Aufgabe sein.

Liebe Freunde, liebe Gäste,

wir sind nach Leipzig eingeladen worden, um über sozialdemokratische Traditionen in Sachsen zu reden, zu hören und nachzudenken. Auch ich habe nachgedacht, was war und was ist wesentlich für uns heute.

Ich bin das erste Mal in dieser Stadt, in der unsere SPD ihre Wurzeln hat; in der, hervorgegangen aus den Arbeiterbildungsvereinen, 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet wurde. Sie ist also eine alte Partei; in dieser alten Partei hat es Strömungen, Richtungen, Abspaltungen und auch Vereinigungen gegeben.

Wir, die heute diese Partei bilden, haben erkannt, mancher hat es schmerzhaft erkannt, daß Schlagworte wie: „Demokratie ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel“ aus der Zeit vor 1933 in die Irre führten. Wir wissen heute, daß sozialer Ausgleich ohne Demokratie, daß Wohlstand für breite Schichten unseres Volkes ohne Demokratie nicht erreichbar ist. Nur im Kompromiß, nur im Wettstreit mit allen Kräften unseres Volkes lassen sich Not-wendige soziale Regelungen treffen.

Wir wissen aber auch: Demokratie kann nicht Bestand haben, wenn in ihr soziale Not-wendige Regelungen unterbleiben. In der kleinen Schrift „Der 8-Stunden-Tag“ von Karl Kautsky aus dem Jahre 1890 wird festgestellt, daß die Erfolge der Arbeiter nur dadurch möglich waren, daß die Starken für die Schwachen, für alle Unterdrückten eintraten. Mir ist dieser Satz in den letzten Wochen oft durch den Kopf gegangen, weil  ich ihn heute nicht auf unser Volk begrenzt sehen kann.

Die Menschen, die von Karl Kautsky „das Proletariat“ genannt werden, haben sich in unserem Land erheblich gewandelt, die moderne Industrie hat qualifizierte Berufstätige zur Voraussetzung. Es gibt dennoch erhebliche Gruppen bei uns, die durchs soziale Netz fallen: „Die Schwachen“ – Behinderte, Suchtkranke, unzureichend Ausgebildete und von Arbeitslosigkeit zerschlagene Menschen, alte-kranke Menschen.

Der Satz aus dem Erfurter Programm von 1891:

„Gleiche Rechte und Pflichten für alle, ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung.“

bleibt für uns ein dauernder Auftrag im politischen Wirken.

Doch selbst der Not-leidende Bürger in unserer Heimat kann sich Waren aus Billiglohnländern günstig kaufen, denn wir Industrienationen haben, sozusagen, das Proletariat in die 3. Welt genannten Länder exportiert. Den Menschen aus diesen Ländern erscheint das Leben eines Hilfsarbeiters in unserem Land als ein lohnendes Ziel.

Warum füge ich diesen Gedanken hinein? Auch unser soziales Wohlbefinden ist gekoppelt mit dem Befinden der Menschen dieser Länder. Auch sie brauchen die soziale Demokratie. Eine Utopie kann diese Völker zeitweilig trösten, doch bessern kann sie deren Lage nicht. Aus diesen Ländern strömen Glücksuchende in die europäischen Länder, so auch zu uns nach Deutschland. Auch wir suchen Glück, d.h. unser Wohl. Es kommen auch Menschen in kleiner Zahl zu uns, die Schutz suchen, d.h. Asyl.

Etliche von uns Sozialdemokraten haben in der Nazizeit Asyl in fremden Ländern gefunden. Zu wenige Länder waren bereit, eine große Zahl, nicht Vermögender, unserer jüdischen Mitbürger, aufzunehmen. Viele hätten gerettet werden können. Laßt uns helfen, daß unsere Mitbürger in Deutschland in den Schutz-Suchenden und den Glück, d.h. Freiheit vor Hunger Suchenden, den Menschenbruder, die Menschenschwester erkennen, die wie wir in Angst und Freude empfinden.

Vergeßt bei all Euren eigenen Sorgen nicht: Sozialdemokraten haben bereits vor über 100 Jahren praktisch bewiesen: Soziale Demokratie bedarf des Eintretens der Starken für den Schwachen. Heute, hier bei uns, West mit Ost, die Gesunden für den körperlich oder geistig Behinderten, Erwachsene für Kinder, Junge für Alte, Industrienationen für die Menschen in der 3. Welt.

Seid stolz auf diese Tradition der Sozialdemokraten, seid stolz, daß Menschen hier in Sachsen mehr als 5 Jahrzehnte durch 2 Diktaturen in ihrem Herzen dieses Wissen bewahrt haben. Ihr werdet mit Geduld und Ausdauer fähig sein, in Eurer engeren Heimat als Sozialdemokraten die soziale Demokratie zu entwickeln.

Achtet den Andersdenkenden als Menschen. Helft denen, denen jeder Einzelne von Euch fähig ist zu helfen. So werdet Ihr überzeugen und unsere Demokratie tragfähig gestalten.

Ich danke.“

Greta Wehner Ehrenmitglied der SPD Sachsen
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