Armer Willy – RBB-Film betreibt historische Entpolitisierung
(ChM) „Willy – Verrat am Kanzler“ heißt der Dokumentarfilm der ARD, am 6. Mai 2024 erstmals ausgestrahlt. Der Clou: Die weibliche Perspektive. Frauen aus unterschiedlichen Zeiten, Lagern und unterschiedlicher Profession kommentieren das Leben des Kanzlers und den Verrat an selbigem. Ein einziger Mann darf sprechen: Ausgerechnet der DDR-Spion Günter Guillaume, aus Archivaufnahmen, der auch den entscheidenden Hinweis gibt: Nicht an seinem Verrat sei der Kanzler gescheitert, sondern den Rücktritt hätten diejenigen zu verantworten, die ihm nach seiner Enttarnung in der Bundesrepublik in den Rücken gefallen sind. Ganz knapp, wie es der Sender in seiner Ankündigung fasst: Das war „Ein gefundenes Fressen für die Presse und die „Parteifreunde“.“[1]
War es das wirklich?
Zunächst ein Wort zu „die Presse“ Das ist nun erstaunlich für einen demokratisch verankerten, öffentlich-rechtlichen Sender wie den RBB, denn das ist doch eine unzulässige Verallgemeinerung, das ist nicht mehr und nicht weniger als Medienbashing durch die Medien selbst. Denn es war keineswegs „die Presse“, die damals ihr „Fressen“ fand und ein Kesseltreiben probierte, es war eine ganz bestimmte Richtung der rechten – vor allem – Boulevardpresse. Also, das ist schon einmal keine solide Formulierung und bedient (bestenfalls) die besonders im Populismus weitverbreitete Medienschelte.
Und dann – ebenso verallgemeinernd– „die ‚Parteifreunde‘“. Gemeint sein kann ja nur die SPD, Willy Brandts Partei. Und hier ist sie insgesamt angesprochen, allein das kann nicht zutreffend sein. Wer in der SPD betrieb also den Rücktritt? Wie immer, und hier grüßt unser Murmeltier, wird in dem Film geraunt, es sei Herbert Wehner gewesen, der Fraktionsvorsitzende. Beweise bleibt der Film wieder einmal schuldig. Und der Chor der damaligen CSU/CDU-Opposition, für die die Affäre nun wirklich ein „gefundenes Fressen“ war, wird komplett ausgeblendet. Dabei waren das die Gegner Brandts, die Rechten in Politik und Gesellschaft, für die (das ist immer noch so!, siehe Merz auf dem CDU-Parteitag erst an diesem Wochenende) es immer noch heißt „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“. Das waren die Gegner der Ostpolitik, die unversöhnlichen Gegner der SPD und ihres Kanzlers, innenpolitische Hetzer.
Schon vorher ist das Geschichtsbild des Films schief, als Willy Brandt quasi zum alleinigen, einzigen Macher in seiner Zeit hochstilisiert wird. Als seien Wahlkämpfe, politische Debatten und Erfolge in damaliger Zeit – wie übrigens auch heute – nicht das Ergebnis gemeinsamer, solidarischer Anstrengung gewesen, der Überlegung, des Dialogs, der langfristigen programmatischen Arbeit vieler, sondern die einsamen Beiträge eines Einzelnen, einer überhöhten Lichtgestalt. Solcherart Hochstilisierung ist geschichtsklitternd und gegenüber den Vielen, die damals etwas geleistet haben, ungerecht. Und für heute, für heutiges politisches Bewusstsein: Das ist historische Entpolitisierung. Das Bedienen der Verachtung gegenüber dem Politikbetrieb.
Ob das nur gedankenlos ist oder einem – wiederum destruktiven oder verächtlichen – politischen Plan folgt, sei hier dahingestellt. Zur demokratischen Meinungsbildung und zu einem realistischen Geschichtsbewusstsein trägt der Film jedenfalls nicht bei.
„Und täglich grüßt das Murmeltier“, ja, wie oft hat die Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung schon zu diesem Unfug mit dem Brandt-Rücktritt Stellung genommen.
Da bleibt zunächst einmal der Hinweis auf einen Text von vor einigen Monaten, der zu den wichtigsten Gegenargumentationen verlinkt: http://www.hgwst.de/stasi-ist-keine-verlaessliche-quelle/. Ja, ja, es macht etwas Mühe, das alles nachzulesen, aber das Buddeln lohnt sich.
Und auf eins möchte ich noch einmal eingehen. Da behauptet die Historikerin (das ist der einzige „Anhaltspunkt“ für irgendwelche Verfehlungen Herbert Wehners gegenüber Willy Brandt in dem gesamten Film, darum bringe ich das hier), Wehner habe 1972 nach der Bundestagswahl einen Zettel mit Anweisungen Willy Brandts für die Koalitionsverhandlungen „angeblich“ vergessen. Das ist doch eigentlich auch kalter Kaffee, denn dazu habe ich – und die Passage zitiere ich hier – in meiner 2006 erschienenen Biographie „Herbert Wehner“ doch alles gesagt, was möglich war, meine ich, hier also der Auszug mit allen Fußnoten dazu aus der Entwurfsfassung des Buches:
<< Der Bundeskanzler warf später Wehner und Schmidt vor, eine „Rückkoppelung“ der Gespräche, die während seiner Abwesenheit mit der FDP geführt wurden, habe es nicht gegeben[i]. Schmidt seinerseits hatte schon im Dezember 1972 auf ähnliche Vorhaltungen reagiert. Er habe doch alles mit Brandt und Wehner abgestimmt, und wenn der Kanzler nicht offen seine Meinung sage, könne er auch nichts tun. Geradezu flehentlich fragte Schmidt in dem langen Brief: „Warum sagst Du nicht Herbert und mir, wie Du Dir die Sache denkst?“[ii]
Besonders übel nahm Brandt Herbert Wehner, daß dieser einen längeren Vermerk zu den Koalitionsverhandlungen nicht an Schmidt weitergeleitet hatte. Dazu habe es später geheißen, der sei verlegt worden oder zwischendurch in einer Aktentasche verschwunden[iii]. Die Brandt-Biographen Peter Merseburger und Gregor Schöllgen meinen, hierbei habe es sich um „Anweisungen“ des Kanzlers gehandelt, und aus dieser Sicht ist es verständlich, wenn Merseburger schlußfolgert, eine solche „Weisung“ könne Wehner kaum zufällig in seiner Aktentasche vergessen haben[iv]. Doch das, was unter dem Titel „Überlegungen zur Regierungsbildung“ vorliegt, datiert vom 28. November 1972, laut einem Vermerk von Schmidt bei ihm eingegangen am 7. Dezember, entlastet Wehner von den Vorwürfen Brandts und seiner Biographen. Das längere maschinenschriftliche Papier ohne Autorangabe, dessen handschriftliches Original von Brandt in der Klinik geschrieben worden war[v], enthält vor allem unpräzise Anregungen, worüber nachgedacht werden könnte. Im Falle der FDP ist von vier Ministerien die Rede. Das Papier gibt Richtungen nur vage vor. Es überwiegen Formulierungen wie „Festzustehen scheint, dass…“, „Es wäre vermutlich vernünftig, wenn…“, „Nicht gut denkbar ist, dass…“ oder „Hier und da taucht der Gedanke auf…“. Viele offene Fragen wie „Soll Eppler nun Landesvorsitzender werden oder nicht?“ bleiben unbeantwortet im Raum stehen, oder es wird gemutmaßt: „Falls Eppler Bildung macht, käme für Entwicklungshilfe Hans-Jürgen Wischnewski in Betracht.“[vi] Die „Überlegungen“ Brandts waren weniger „Anweisungen“ als schwammige Mutmaßungen über mögliche Personaltableaus. Es ist kein Wunder, daß Wehner vergaß, dieses Papier sofort an Schmidt weiterzuleiten. Anderenfalls hätte das am Ergebnis der ohne klare Anweisungen des Regierungschefs geführten Koalitionsverhandlungen auch nichts geändert.>>
Für die Richtigkeit: Christoph Meyer
[1] https://www.rbb-online.de/fernsehen/programm/index.htm/from=08-05-2024_06-00/to=09-05-2024_06-00.html (abgerufen am 6.5.2024).
[i] Brandt: Erinnerungen, S. 305.
[ii] AHS-privat Koalitionsverhandlungen/Regierungsbildung 1972. Schmidt an Brandt (hs.) vom 4./5.12.1972 (Kopie).
[iii] Vgl. Brandt: Erinnerungen.
[iv] Merseburger: Willy Brandt, S. 659f.; Schöllgen: Willy Brandt, S. 189.
[v] Vgl. Ehmke: Mittendrin, S. 223; die handschriftliche Fassung: Vermerk des Bundeskanzlers, Brandt, zur Regierungsbildung 28. November 1972, in: Brandt, Willy: Mehr Demokratie wagen. Innen- und Gesellschaftspolitik 1966-1974, bearb. von Wolther von Kieseritzky, Bonn 2001 (Berliner Ausgabe, Bd. 7), S. 387-396.
[vi] AHS-privat Koalitionsverhandlungen/Regierungsbildung 1972. Vermerk: Streng vertraulich/Überlegungen zur Regierungsbildung, datiert 28.11.1972.