Stasi ist keine verlässliche Quelle

Wehner gehört nicht zur „Connection“

Leserbrief in der FAZ

Kontakt zu Honecker: Mielke und Wolf sitzen nicht am Tisch

Gegen die Einordnung Herbert Wehners in die Vorgeschichte einer sogenannten „Moskau-Connection“ von Unterstützern Putins in der SPD hat sich Christoph Meyer, Vorsitzender der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung, in einem Leserbrief gewendet, welchen die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 20. März 2023 abgedruckt hat. Wir dokumentieren hier den Leserbrief, zum besseren Nachvollziehen versehen mit Anmerkungen und Hinweisen zur Quellenlage.

Zu „Die Moskau-Connection“ von Reinhard Bingener und Markus Wehner (FAZ vom 13. März[1]): Die Behauptung, Herbert Wehner habe im August 1981 „gegenüber einem Vertrauten von SED-Chef Erich Honecker“ entschlossene Maßnahmen gegen Polen gefordert, „je eher, desto besser“, gipfelnd in dem Wehner zugeschriebenen Diktum, es gehe „nicht ohne Gewalt, leider“, steht auf tönernen Füßen. Sie stammt aus einer Tagebuchaufzeichnung des ehemaligen Stasispionagechefs Markus Wolf.[2] Der „Vertraute“ ist der in humanitären Fragen engagierte DDR-Anwalt Wolfgang Vogel.[3] Dieser hielt sich vom 7. bis 9. August 1981 bei Herbert Wehner in dessen Ferienhaus auf Öland auf. Wie allgemein bekannt ist, durfte Wolf die Berichte Vogels nicht sehen.[4] Der Anwalt berichtete direkt an Minister Erich Mielke, der redigierte die Berichte, manchmal tagelang, und leitete sie dann in dieser Form an Honecker und wohl auch Wolf weiter.[5]

Wehner – Vogel – Mielke – Wolf: Die angeblichen Zitate sind aus vierter Hand.[6] Kennen die Autoren das Spiel „Stille Post“? Ähnlich dürfte es sich hier verhalten. Am Ende kommt etwas anderes an, je nach Verständnis und wohl auch Interessenlage der Protokollierenden und Redigierenden.[7]

Wer Wehners politische Positionen und sein politisches Wirken kennt, muss die Behauptung, er habe (Honecker, wieso eigentlich den?) zur Gewalt gegen die polnische Gewerkschaftsbewegung „Solidarität“ aufgefordert, für eher abwegig halten. Wehner stand Egon Bahr, der Ostpolitik vor allem über Moskau machte, kritisch gegenüber.[8] Der Fraktionsvorsitzende fühlte sich gerade den mittelosteuropäischen Ländern, insbesondere Polen, stark verbunden.[9]

Herbert Wehner gehört nicht in die „Moskau-Connection“.[10]

 

 

[1]              Hier die Stelle des Artikels, auf welche sich der Leserbrief bezieht (sie schließt an einen Vorwurf gegenüber Egon Bahr, welchen ich hier nicht beurteilen kann, an): „Und Herbert Wehner, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, fordert schon im August 1981 gegenüber einem Vertrauten von SED-Chef Erich Honecker, man müsse ‚entschlossene Maßnahmen gegen Polen‘ einleiten, ‚je eher, desto besser‘. Es gehe ‚nicht ohne innere Gewalt, leider‘, so Wehner.“

[2]              Vgl. „Eintrag vom 24. August 1981“. In: Wolf, Markus (1998): Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen. München: Econ, S. 493f.

[3]              Die Bezeichnung Vogels als „Vertrauter“ Honeckers trifft meines Erachtens nicht den Kern der Beziehung. Der Anwalt war, so wäre es besser zu formulieren, Vermittler und Vertrauensmann, und zwar sowohl für Honecker als auch für Wehner. Wolfgang Vogel selbst sagte dazu 1997: „Kontakte gab es zwischen Wehner und Honecker, und von diesen beiden hatte ich Verhandlungsvollmachten.“ (Thunemann, Rüdiger: Anwalt Vogel: Wehner war kein Spion für die DDR. In: Berliner Morgenpost vom 21.5.1997). Zu Vogel vgl. grundlegend die Biografie von Norbert F. Pötzl (2014): Mission Freiheit. Wolfgang Vogel – Anwalt der deutsch-deutschen Geschichte. München: Wilhelm Heyne.

[4]              Dazu heißt es schon 1997 im „Stern“, der damals einen Vorabdruck von Wolfs Memoiren groß herausbrachte: „Da Wolf von Vogel keine direkten Informationen erhalten durfte, basiert seine Kenntnis der Gespräche allein auf den von Mielke verfaßten Berichten.“ (Hermann, Kai: Verrat auf höchster Ebene? In: Stern Nr. 22 vom 22.5.1997, S. 124-132, S. 132.)

[5]              Vgl. Wolf 1998, a.a.O., S. 209.

[6]              Bestenfalls aus vierter Hand, müsste wohl hinzugefügt werden. Laut Vogel jedenfalls redete der Anwalt nur dann mit Mielke, wenn es „im Zusammenhang mit dem Austausch oder Freikauf von Häftlingen oder um andere konkrete Sicherheitsfragen bei meiner Mission ging“ (Thunemann 1997, a.a.O.). – Das „Bestenfalls“ wäre hier noch dick zu unterstreichen. In der Buchfassung jedenfalls zitieren die Autoren den Großhistoriker Prof. Dr. Heinrich-August Winkler, der schon im letzten Jahr das Wolf-Zitat zustimmend im „Spiegel“ verwendet hat (ausführlich dazu Klaus Vater, siehe https://bruchstuecke.info/2023/03/31/mal-heisst-ein-sputnik-schroeder/, zuletzt geöffnet am 4.4.2023). Aus fünfter Hand also, doch die Feder des (sozialdemokratischen) Edelhistorikers veredelt natürlich auch den Wolf, oder?

[7]              Leider liegt (auch mir) keinerlei Originalaufzeichnung über die Gespräche zwischen Wehner und Vogel im August 1981 vor. Selbst die „Dokumente zur Deutschlandpolitik“ verweisen lediglich auf die fragwürdige Quelle Markus Wolf (vgl. Bundesarchiv [Hg., 2016]: Dokumente zur Deutschlandpolitik [DzD]. VI. Reihe, Bd. 7: 1. Januar 1981 bis 1. Oktober 1982, Berlin/Boston: de Gruyter, S. 238). In den Beständen der Herbert-und-Greta-Wehner-Stiftung gibt es im Teilnachlass Wolfgang Vogel zu dieser Reise lediglich Tickets, Hotelquittungen und ähnliches. Es fehlen die sonst üblichen Karteikarten mit Notizen Vogels zu den Gesprächen. Ebenso wenig ist in Dresden eine stenografische Mitschrift von Herbert Wehner auffindbar. Es ist daher davon auszugehen, dass die Gespräche auf der Urlaubsinsel im informellen Rahmen verblieben sind, Vogel mithin also gar keine Mitschrift angefertigt hat. Insofern läge dem „Bericht“ Mielkes, den Wolf vierzehn Tage später in seinem Tagebuch wiedergibt, ein lediglich mündlicher Vortrag Vogels beim Minister zugrunde. Das wiederum verstärkt mein Fazit: „Stille Post“, Geheimdienstlergeschwätz, keine seriöse Quelle. Wolfgang Vogel selbst hat übrigens in der ARD-Sendung „Kontraste“, 1997 im Interview mit Jürgen Engert, unmittelbar nach Erscheinen der Invektiven Wolfs bzw. des „Stern“ ein klares Dementi gesetzt. Gefragt, ob Herbert Wehner ein gewaltsames Eingreifen in Polen gefordert habe, sagte er: „Nein.“

[8]              Vgl. zuletzt Meyer, Christoph: Verdienste, Fragen, Konsequenzen. Bemerkungen zum 100. Geburtstag von Egon Bahr (http://www.hgwst.de/bahr-100/, 17.3.2022) sowie  Meyer, Christoph (2013): Der Mythos vom Verrat. Wehners Ostpolitik und die Irrtümer von Egon Bahr, in: Deutschland Archiv Online, 19.12.2013, http://www.bpb.de/175147.

[9]              Vgl. dazu Meyer, Christoph (2006): Herbert Wehner. Biographie. 4. Aufl. München: dtv, S. 457f. – Ausgerechnet im Februar 1982, schon gezeichnet von schwerer Krankheit, unternahm Wehner die Mühe einer Reise nach Polen, wo inzwischen das Kriegsrecht verhängt worden war. Wehner sagte dort, „die SPD habe immer in Solidarität zu Polen gehandelt, er selbst auch aus persönlichen Gründen. Polen dürfe kein Spielball zwischen Ost und West werden.“ (ebd., S. 457)

[10]            Vgl. dazu auch: Meyer, Christoph: Krieg in Europa. Anmerkungen im Lichte sozialdemokratischer und deutscher Geschichte (http://www.hgwst.de/bruderkuesse/, 25.2.2022).

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